Benjamin Dittrich. Als autopoietische Obstfliege in die Zukunft

Das Wissen um die selbsterhaltenden Lebenskräfte (Autopoiesis) einer Obstfliege in der Zukunft ist für den Künstler Benjamin Dittrich womöglich und für den Autor auf alle Fälle vollständig unbekannt. Dafür aber zweifellos im Bereich der Kunst: Dittrich lotet seit längerem aus, welche Wirklichkeitsformen von der Welt existieren und wie gut das Medium Malerei diese repräsentieren kann. Und indem er dies tut, löst er in der Malerei zugleich die ihr zugrunde liegende automatische Selbstorganisation zur Formbildung aus. Zweifellos sind es mal schwache, mal gewaltige Impulse die Dittrich, ohne es im Voraus einschätzen zu können, durch den kreativen Akt in das System Kunst induziert.

Anschauung um dieses Bildwissen bietet seine neue 2019/20 entstandene Werkgruppe, die nun erstmals in der Galerie Kleindienst der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Die farbenprächtigen Gemälde zeichnen sich durch eine äußerst komplexe Formensprache aus und mögen als Gesamteindruck beim Betrachter Abstraktes präsentieren, an manchen Stellen bisweilen auch Figuratives suggerieren und an kunsthistorische Vorbilder der klassischen Moderne erinnern. Dieses altbekannte Wechselspiel der Malerei ist aber höchstens Nebenprodukt und nicht das zentrale Anliegen des Künstlers. Dittrich verhandelt in seiner Malerei eine Form von Wirklichkeit, die außerhalb des Gesichtsinns liegt. Er operiert mit Wissenschaftsbildern.

Die Erforschung der Wirklichkeit, ob im Makro- oder Mikrokosmos, ist längst in Phänomenbereiche vorgestoßen, die trotz optischer Hilfsmittel für das Auge zu klein oder zu weit weg sind. Dabei stoßen die entsprechenden sprachlichen Beschreibungsversuche an die kognitiven Verstandesgrenzen, sodass Bilder als grafische Erklärungsmodelle von Dingen bemüht werden, die eigentlich nicht sichtbar gemacht werden können. Diese vermeintliche Vorrangstellung des Bildes gegenüber dem Sprachzeichen in der Wirklichkeitsvermittlung – iconic turn – wird in dem Maße zunehmen, wie die Wissenschaft Erkenntnisbereiche untersucht, von denen sie glaubt, dass Sprache nur unzureichend den Sachverhalt transportieren kann und im Gegenzug der Leistungsfähigkeit von Bildern mehr Vertrauen schenkt.

Bilder helfen den Sinn der geschriebenen Sprache besser zu verstehen. An dieser wichtigen Schnittstelle von Text erklärenden Bildern und Inhalt vorgebenden Texten nehmen die Gemälde Dittrichs ihren Ausgang. Die mit Öl bemalten Leinwände geben mehrere, übereinander gelagerte und sich durchdringende Wissenschaftsbilder aus ein und derselben Sachbuchquelle wieder: Erich Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. Die entnommenen Vorlagen werden aber nicht nur durch den kreativen Akt des Künstlers verändert, sondern auch ihrer vorhandenen Kommentierung, wie Bezeichnungen, Legenden und Bildunterschriften, beraubt. Wenn es gemeinhin heißt, dass die zeitgenössische Kunst kommentierungswürdig ist, stellt sich bei den Gemälden Dittrichs die Frage, wie man mit seinen Bildern umgeht, deren ursprüngliche Kommentierung zerstört worden ist. Was übrig bleibt sind vom Text befreite grafische Kompositionsstrukturen, die mit Farbe malerisch ausgefüllt werden. Man könnte auch von Bildräumen sprechen, deren einstige Kommunikationsbereitschaft Dittrich durch den Farbauftrag zum Schweigen gebracht hat. Dittrich ein Bilderstürmer? Immerhin dekonstruiert er den vorhandenen Sinn seiner Bildquellen zugunsten einer ästhetischen Formen- und Farbenautonomie und wird gerade dadurch wieder ganz zum Bilderschöpfer. Wenn man dem Titel des Buches vertrauen darf, aus dem die Bildvorlagen stammen, so organisiert sich das Universum vom Urknall bis zum menschlichen Geist selbst. Im Umkehrschluss möchte man meinen, Dittrich vertraut den selbstorganisierenden Kräften der Malerei, neue Wirklichkeiten zu schaffen.

Marcus Andrew Hurttig (Kurator, Museum der bildenden Künste, Leipzig)

 

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