Der Kopf ist auf sich selbst gestellt 

von Lina Morawetz

Der Maler Eugene Delacroix soll gesagt haben, es gebe Linien, die Ungeheuer sind … Sofort fragt man: welche Linien? Und fragt: Welche Ungeheuer? Schon möglich, dass Delacroix die horizontale Linie meinte, denn ein derart ungekrümmter Strich ohne Querausdehnung hat definitiv etwas Überwältigendes, Eindrückliches an sich. Der Horizont ist nichts anderes als eine ungeheure Linie. 
Der Horizont entzweit das Bild. Die in der Leipziger Galerie Kleindienst gezeigte fotografische Serie Zenit unterhält in acht Bilderpaaren eine ambivalente Beziehung zu dieser Linie. Das kommt durch ungeheure Lagen zur Sprache. Und es gibt in den Bildern außerdem noch eine dünne, schwarze, krakelige, fast unsichtbare aber nicht unerhebliche Linie, die darauf verweist, dass der Protagonist im Bild die Kamera selbst auslöst. 
Der Ozean ist blau und grün, eine eigentlich atemberaubende Lage. Aber um solche Aussichten geht es hier nicht. Es geht um ein Bild, in welches sich der Protagonist in halsbrecherischer Millimeterarbeit einpasst: um es damit überhaupt erst zu konstruieren. Es ist nämlich so, dass Delacroix auch gesagt haben soll, eine Linie allein habe keine Bedeutung; es bedürfe einer zweiten, um ihr Ausdruck zu verleihen. Dementsprechend verleiht die Vertikalität des Körpers der Fotografie zusammen mit der ersten Linie des Horizonts als Zeichen so etwas wie Signifikanz – »Ausdruck«. Diese akkuraten Achsen erlauben dann auch einem schrägen Fuß einer Fußnote gleich abzuweichen von einer Erzählung, die keine ist.  
Erzählt wird von keinen Zusammenhängen, von keinen Versuchen. Ozean und Zenit befassen sich durch das Festhalten eines springenden Punktes mit der Konstruktion von Bildern in Zeit und Raum in Zeiten ohne Zeit und Raum. Einer medienontologischen Reflexion gleich sind die Arbeiten eine De-Realisation; nachträgliche, bildliche Verwirklichungen vergangener Performances, gleichzeitig eine Art Bildtäuschung am Rande einer ruinösen, nicht weiter definierten Welt. 
Der Boden dieser Welt besteht aus Beton, aus Sand, aus bröckeligen Blöcken, die rutschig wirken und wohl regelmäßig von der Flut umspült werden. »Ōkeanós« war im alten Griechenland der Weltstrom, der die flache Erdscheibe umfloss. Wohingegen heute Weltmeere die Weltkugel umrauschen, oder eher: der Mensch die Ozeane beraubt. Die Welt steht Kopf.
»Zenit« heißt in Richtung des Kopfes; und als wollte das Bild einer aus den Fugen geratenen Welt gerecht werden, weist in jedem zweitem Bild der Serie der Kopf des Protagonisten »nach unten«. 
Aber der Kopf ist auf sich selbst gestellt. Es ist deutlich zu erkennen, dass der Kopf auf die Welt gestellt ist und nicht die Welt auf den Kopf. 
Das neben Zenit gezeigte Video Ozean wiederum evoziert im Betrachter in erster Linie die ambivalente Erwartung, der Protagonist, weil er in das Wasser ab- und aber daraus nicht mehr sichtbar hochtaucht, verschwände im Ozean. Das Verschwinden wird zudem an einer existentiellen Lokalität suggeriert, dort, wo sich Land und Wasser scheiden. Damit wird Bas Jan Ader auf den Plan gerufen, der sagte: »Das Meer, das Land, der Künstler erkennt mit großer Trauer, dass auch sie nicht mehr sein werden.«
Ob es sich bei derlei Sprüngen und Kopfständen und beim Wegtauchen um Ernst oder Spiel handelt, lässt sich dahingehend beantworten, dass gerade die Abwesenheit des Sinns in der ungeheuren Lage ist, Sinn zu verleihen. In einer Fußnote Jacques Derridas liest man:
»Das Ernste allein hat einen Sinn: Das Spiel, das keinen Sinn mehr hat, ist ernsthaft nur in dem Maße, als die ›Abwesenheit eines Sinns ebenfalls ein Sinn ist‹, der sich aber stets in der Nacht eines indifferenten Nicht-Seins verläuft.« [1]  
Kunstmachen ist Ankämpfen. Gegen »Nächte des indifferenten Nicht-Seins«, gegen Unterbelichtung bis hin zur Atem- oder Bedeutungslosigkeit. Der Kopf ist dabei auf sich selbst gestellt. Am Rande des Ozeans wird in Form von Sprüngen und Kopfständen der Absurdismus des Kunstmachens als schwere, selbstauferlegte Tätigkeit ohne absehbares Ende ins Bild gerückt.
Produktionstechnische Verzögerung, analoge Vergrößerung, die Rezeptionsdauer des Videos, das lange Anhalten des Atems unter Wasser, notwendig fürs Tauchen, sie weisen sich in den Arbeiten als Ambivalenz aus—aber eben auch als künstlerische Ambition. Nämlich eine passende Optik herzustellen, mit der sowohl das »Schaffen« von Etwas darstellbar ist als auch die Vorstellung des einmal von VALIE EXPORT zur Sprache gebrachten »Leben quer durch Raum und Zeit.«[2] 
Der Künstler vermisst einen Raum. Er macht sich ein Bild der Lage, macht dann ein Bild, um einen Raum zu haben, in dem es sich eine zeitlang bewegen lässt. Oder umgekehrt: erst der Einsatz einer Kamera bringt sowohl das Bild als auch ein Subjekt hervor. Das Subjekt droht mitunter abzutauchen oder unterzugehen. Es stellt sich andererseits präzise auf den Kopf und erhebt sich über ungeheure Dinge.
Zurück bleiben die Bilder als Akteurinnen, die letztlich jene Räume schaffen, die sie in Wahrheit vermissen. Oder in Wirklichkeit? Eine Konstruktion aus zwei Achsen der Signifikanz, die sich ineinander lehnen: Bilder und Zeichen. Vermessen und Vermissen. Optikalität und Semiotik. Ozean, Zenit

 

[1]                Jacques Derrida, Die Schrift und die Differenz, 1972

[2]                Stefan Römer, Reports from the Conceptual Paradise, 2013

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