Viezens ist umgezogen, weg aus Leipzig, lebt jetzt in oberfränkischer, dörflicher Gemeinschaft, wo man anfangs dachte, der Viezens Steve ist halt ein Kunstmaler, aber einer von der harmlosen Sorte, ein ganz ein netter, ein ganz bunter und sehr guter. Aber der Viezens Steve macht da in seinem Atelier ganz geheime und irgendwie auch ganz gemeine Sachen, hat dann einer mal gesagt. Der ziehe sich da gedanklich Kittel, Gummihandschuhe und Schutzbrille an und löte, nähe und fummele sich da Tag für Tag irres Viechzeug zusammen. Ein paar Stromstöße und die Viecher zappeln, werden bunt angezogen, hingesetzt und dann gemalt. Sie rufen mit erstickter Stimme ihren Vater Steve, fragen eher tot als lebendig: Warum hast du mir das angetan? aber der sagt immer nur: Halt still!,  nimmt Pinsel und Leinwand und malt wie der Teufel.
Den Augapfelmann, den bösen Widersacher des kindlichen Kopffüßlers, hätte der Viezens Steve sich nicht nur ganz eklig ausgedacht, sagen sie im Dorf. Dass der Augapfelmann verscharrt in Viezens Garten neben anderen Geistern liegt, die nachts durch seine Träume wandern, dass der Viezens ja den ganzen Tag mit Leben und Tod zu tun hätte, und das hätte man ja nicht ahnen können. Dass der ein ganz brutaler Maler sei. Das vermutet man bei all der Buntheit nicht, weil er seine Kreaturen für uns auf einer Augenweide grasen lässt.
Beim Viezens vermutet man zu allererst die Allegorie, aber die gibt es da so gut wie gar nicht, nur wenn er zeigt, dass er das kann: wenn er sein Erfindertum zugunsten der Allegorie im Bild aufgibt. Und das sind vielleicht auch seine stärksten Bilder,  in denen ungebrochene Schönheit der malerischen Perfektion antritt gegen die Unvollkommenheit der Erfindung. Krepelnde Fabelwesen werden von naturalistisch dargestellten Tieren bedroht und vernichtet, ein mit Hingabe gemalter Frauenakt streift seinen Wolfspelz ab.
In Viezens Bildern finden, von kompositorischer Eleganz verdeckt, Kämpfe statt, zwischen Darstellungsformen, Farbpaletten und Stilepochen.  Die verschiedenen Genre streiten sich höflich um die Oberhand im Bild. Man hält sich an der Grenze zwischen Groteske und Morbidität auf. Wer gewinnt, darf entscheiden, wohin die Reise geht. Wenn keiner gewinnt, verweilt man eben an der Grenze.
Dass dem Viezens besonders gut die Landschaft und die Frauenkörper und die Tierdarstellungen gelängen, dass er sich aus irgendeinem Grund darauf nicht beschränken könne, dass er daraus immer etwas Seltsames machen müsse, und dass diese Seltsamkeit der Bilder auf ihn abfärbe lässt sich im Grunde ja gar nicht vermeiden. Und dass man diese Bilder gar nicht ansehen könne, ohne dass man sich selber seltsam fühle. So als wäre man in der Welt nicht mehr zu Hause, fühle man sich da. Dass die Kinder ja Angst hätten vor dem Haus in dem er malt, das müsse man sich mal vorstellen. Diese gottverdammte künstlerische Freiheit, hat einer mal gesagt, wenn ich könnt' würde ich's ihm verbieten. Wieso soll der freier sein als wir?
Aber ist Viezens wirklicher freier als die anderen? Nur weil er sich nicht zufrieden gibt mit seinem Abbildungstalent, weil er sich nicht an die Vorgaben der Natur oder des Dekorativen hält? Viezens fühlt sich der Malerei und ihrem Repertoire verpflichtet wie kaum ein anderer, fühlt sich dem verpflichtet, was die Malerei sich über die Jahrhunderte erarbeitet hat und leistet sich dabei keine Schwäche, weil das ja Verrat am eigenen Können, Verrat an der geliebten Malerei wäre. Und da er das nicht kann, die Malerei verraten, muss er, um zur Freiheit zu gelangen, den Weg über das Fantastische, das Fabulöse gehen. Er benutzt Techniken, die einst zur Darstellung von Welt und Weltentwürfen entwickelt wurden, zur Abschaffung der Welt. Und darin liegt der Verrat des Viezens Steve, und das ist das Verwirrende, was sie am Stammtisch nicht verstehen wollen: dass die Bilder einen einladen, dass man alles so gut erkennt und dann trotzdem nichts versteht. (Carsten Tabel)

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