Carsten Tabel
Urlaub mit einem Mann (2010)
von Carsten Tabel (In "I'm not on fire" Lubok Verlag, 2010)
1.
In der ersten Stunde Englisch, good morning, zweite geschwänzt, dritte geschwänzt, vierte Sport, krank auf der Bank, ohne Artest,Wodka im Turnbeutel. Ab und zu hinkend in die Umkleide, zwei drei Schlückchen, zurück in die Halle, zu hinken vergessen. Nach dem Unterricht duscht lieber keiner als alle miteinander.
Nur noch einmal im Leben zur Dorfjugend gehören, auch wenn es eine inzwischen alt gewordene, eigentlich schon vergangene Jugend ist, die sich trotzdem auf ewig fortzusetzen scheint. Einfach so lange dabei sein und mitreden, bis alle vergessen haben, dass es früher mal nicht so war, so lange bis alles Fremdsein von einem abgeblättert. Zartes Pflänzein freiwillig dem ewigen Herbstlicht überantwortet. Eingetauscht für ein Dasein als winterharte,
sprücheklopfende Staude; ob du so bleibst oder nicht, entscheidet die Härte des Winters, nicht du.
Ich starre in deine Ohren in der Hoffnung, etwas, das ich vorhin aus Versehen gesagt habe, zu erspähen, es zu packen und herauszuzerren, auf das es dein
Gehirn niemals nie erreiche. Es gibt diese Angst vor der Erfüllung der eigenen Vorstellung, vor der eigenen magischen Kraft, die einen in aktionsloser Demut
erstarren lässt. Was du erzählst, wovon du sprichst, interessiert nicht.
Ich will in der Schweißnaht versinken, die dich und die andere zusammenhält, an Grillabenden, in Diskotheken, an Krankenbetten. Wir saßen am Glastisch zu viert, betrunken in den Armen. Ihr dann zu dritt in einem Bett. Neu in der Stadt gibt es Jungs und Mädchen, die sich für einen interessieren,
solche für die man sich nicht interessiert. Auf der Jagd nach erfüllender Beidseitigkeit quält man sich durch verfärbte Erzählungen, stottert sich mit
unabsichtlichen Falschaussagen in die Herzen anderer. Ein auf ewig unbemerkter Anbiederungsskandal. Die Zungen locker halten. Lieber ein
Gläschen zu viel. Aus dem, was man zu sagen befähigt, spinnt sich eine hanebüchene Legende. Ein Cocoon zirkuliert zwischen den Jugendbanden der
Stadt, befruchtet und umsponnen von Gerüchten, bis man unter seinem Kleidchen ganz unsichtbar wird.
Mitunter fiel dir kurz ein, dass wir anderen ja auch irgendwas fühlen müssten. Statt aber mitzufühlen machtest du durch den Empathiefilter harmlos gewordene emotionale Erfahrungen nach, von der dir Bekannte von Freunden berichtet haben, machtest Herzmuskelübungen für den Ernstfall. Als Kind, als ganz kleines, um die behinderten Menschen, die Obdachlosen, erschlagen von der Macht des Schicksals, unschuldig diskriminierende Tränchen geweint.
Mit dem letzten Bus vom Depot in die Stadt, am Bahnhof angekommen erst mal ein Bier, bisschen warten, hoffen, dass jemand vorbeikommt, vielleicht einer, der einen mitnimmt, sich dazu setzt. Nach einer Stunde und sechs angerauchten Zigaretten in die Kneipe.
Ich kenne alle nur vom Sehen und kann mich zu niemanden setzen, letzte Ecke Zweiertisch, jede Bewegung muss sitzen. Flippern, ein Bier, nichts wie nach
hause. Man selbst ein ewiger Schrei. Blutegeljahre. Man klebt an den Lippen anderer, saugt sich voll mit dem Weltwissen der Spätpubertät, lässt sich
genüsslich vergiften, lernt zu rauchen und zu trinken, deprimiert aggressiv in der Ecke zu stehen
Die Futterstelle hinterm Haus, ein Stinkkübel. In der Küche werden noch bäuerliche Sitten gepflegt, essen die Weibsleute nach den Mannsbildern, essen
die Knechte doppelt, soviel, wie der Bauer. Das Haus ist ungemütlich geworden wegen der modernen Schulkindern, den traditionslosen Gymnasiasten, denen
Oberstudienräte den angeborenen Dialekt aus der Erbmasse gewaschen haben. Tadellose Beamte, niemals enthusiastische Germanisten gewesen, reine
Sprachverwalter.
Wieso gehört das eigene Kind nicht zur knatternde Dorfjugend an der Bushaltestelle? Mofa frisieren, Hütchen trinken, Computer, Freibad, Videothek.
Das alles macht doch Spaß. Urlaub mit einem Mann, in Frankreich meinetwegen. In vino veritas. Ich konnte am Ende nicht mal mehr seinen Atem ertragen. Die Staublunge von der Kohle, von der Taubenzucht.
Aus der Kleinbürgergroßstadt, keine Scherben, keine Kippen, Hundescheiße gewohnt. In anderen Vierteln, bei den Türken, Italienern vielleicht, da wo du
wohnst vielleicht. Es kam der Tag, an dem ich mich beim Runterwürgen verschluckte und abhusten musste.
Erschaltete den Fernseher ein und ab. Durch die Ritzen seiner Rüstung tropfte rotes Blut. Es dringt aus ihm, um sich das Leben anzusehen, das es in Gang
hält. Es quetscht sich durch Adern und Poren, sucht sich mit aller Kraft den Weg nach draußen. Manchmal mischt sich ein brutaler Schleuser in Form einer Kugel oder eines Messers ein, und der rote Saft kann nicht anders, muss hinaus und muss sich umsehen, Zwangsumsiedlung mit Todesfolgen.
Worin spiegelt sich die Welt, in deinem rostigen Harnisch oder in der roten Pfütze, die dich so anglotzt?
2.
Auf dem Teller, alles nur halb so gar, wie es gekocht wurde. Das Fleisch noch prall und frisch, felsenfest am Knochen. Kein butterweich zerfaserter Brei. Die
Bäckchen verschiedener Jungtiere feiern ein posthumes Rencontre. Schwein, Rind, Hirsch, jeder ist willkommen.
Die bestellten Platten kommen seit gefühlten Jahren nicht. Der neue Katalog, das Fanzine aus USA, das alles lässt mit nicht zu füllender Zeit auf sich warten. Im Eisschrank, ein domestizierter Gletscher, die symbolische Züchtung des ewigen Eises im elterlichen Eigenheim. Ich propagierte das Leben im abseitigen Schatten.
Im Urlaub mit einem Mann, der keinen Schatten warf. Als wir nach vier Wochen keinen einzigen Schritt mehr aufeinander zugehen konnten versank er in
selbstzufriedener Gelassenheit. Ich wetze die verbalen Messer. Den letzten Schliff sollten sie auf der Zunge erhalten, unmittelbar vor dem tödlichen Stoß. Ich wartete auf den Moment in dem er mir förmlich anbot ihm detailliert zu schildern, warum in meinen Augen er allein der Teufel ist.
In der Hecke ums Haus nisteten Vögel und Spinnen. Die Kanacken im Freibad. Wie macht es, wenn du einem Türken das Genick brichst?
In deinem Qualleneimer spuken die Erinnerungen, zähes Schwarzes hängt zwischen den Tieren. Es könnte passieren, dass du verpasst zu begreifen, dass
deine Kindheitsfantasie langsam mit dir zur Erwachsenenfantasie gereift, weil du geglaubt dieses Organ verloren oder besiegt zu haben, ihm entwachsen zu sein.
Die Verspeisung der Sitten, ein kulinarischer Vorgang, die Lust an der sättigenden Tilgung einer lagernden Kultur der Zusammenrottung und losen Klüngelei. Kilometer voneinander entfernt stehen unsere Zelte Seit an Seit. Die Interessen verschieben sich und in diesem Fall haben deine neuen Freunde mich weggeschoben. Bemüht um reibungslose Abläufe auf allen Ebenen. Die Ecken und Kanten des Daseins abschleifen, ein Keil im Wind werden, ein
Profileben.
Aus dem Kreis ins Feld gedrängt, in dem sich die Idioten tummeln. Die Brillenträger, die Hässlichen, die Fetten, die Loner. Und solche wie mich, die im
Umgang mit Gleichaltrigen nicht auf den Faktor kindliches Spiel verzichten können. Die schlimmsten von allen: die krankhaft Kindischen.
Ein gesiebter Mensch inmitten der Schandmäuler, der Muffelköppe. Blitzblank, die Sonne im Herzen, schlendert er vom Bus zum Abendbrot nach Hause. Vorbei an den 20jährigen Autobesitzern mit 13jährigen Freundinnen, über den sonst leeren überdimensionierten Schotterparkplatz des Tengelmanns. Jackie-Cola von der Tankstelle. Im Sommer fliegen Wespen in die Dosen.
Ausflug ins Dreiländereck (2008)
von Carsten Tabel (In "I'm not on fire" Lubok Verlag, 2010)
Wohin mit all den Dingen, die uns begleiten und gehören? Wohin mit diesem lästigen, geliebten, lebenslangen Besitz? Das Verhältnis zum eigenen „Hab und
Gut“ muß in ständiger Bewegung bleiben. Es darf und kann keine Ruhe einkehren. Nicht mehr in den eigenen vier Wänden. Mal Klotz am Bein, mal ein
sich sanft schmiegendes Kätzchen. All dieser Kram und die Erinnerungen. Fotos, Briefe, Bücher, Fußabdrücke; Statisten des eigenen Lebens. Bezahlte,
unbezahlte, solche, die ungefragt und schön durchs Bild laufen. Solche, die sich nicht anschicken, es trotz massiver Aufforderung zu verlassen. Die Stricke, die am Boden halten. Da, wo man hingehört. Konkrete Schranken der Vernunft, ein schlummerndes Abstraktes in und zwischen all den scharfen Kanten.
Umdeutungen und Kehrtwendungen der nicht zu ertragenden Wirklichkeit. Etwas wird da schon zu helfen wissen. Wir heulen nur, damit jemand sagt: Hör
auf! Studiere was die anderen dir über dich und dein zukünftiges Handeln beibringen können. Es ist alles gut verteilt und gut geregelt. Unmissverständlich
und unbedingt verstehbar; dennoch sind die Gebrauchsanweisungen in ständiger Überarbeitung, wegen allzu häufiger Beschwerden. Das ewige Projekt der
Menschen ist ihre allumfassende Bedienungsanleitung. Dem gegenüber steht eine Vielzahl kleiner Grüppchen von größter Unterschiedlichkeit mit großem
Hang zur Dysfunktionalität: die Selbstverständlichkeit des autonomen Willens als einzigen Betreiber der Wirklichkeit wollen sie nicht verstehen oder können sie nicht akzeptieren, weil es sich schlicht um unbekannte Größen handelt, Dinge, die ihnen unerfahrbar bleiben.
Man kann alles übermalen, vollschmieren und zerhacken, und man ändert nichts. Es sind angedeutete Handlungen, die symbolisch mächtiger sein sollen, als die tatsächliche Veränderung der Realität. Objektwerdung der gedanklichen Radikalität ist aber vor allem ein Akt der Entschärfung. Ein angedeuteter
Zusammenbruch. Restfetzen einer totkopierten Ambition, stumpfe und schillernde Muster einer nicht übermalbaren Realität.
Pflanzen im Zimmer, ständige Besucher. Als Zögling mit dem Schiff, inzwischen Pflegefälle. Alles steht noch da, wo es stehen sollte. Das Gleiche, in Ordnung. Nach Rückkehr und Gewöhnung beginnt die Überwucherung im satt gesehenen Auge. Die Abschaffung der qualitativen Unterschiede, Verlust von Bedeutung. Eine bedrohliche Masse aus überschaubaren Details, eines harmloser als das andere. Zusammengenommen eine laut schwatzende Fraktion von
Möbelstücken und Klimbim, die man im Urlaub glaubte zu vermissen. In Wahrheit professionelle Ablageflächen für Alltagsstaub, Stellvertreter zu Hause,
erledigen die Ruhe für ihre umtriebigen Besitzer. Abgenutztes Wissen, ästhetische Artefakte aus abgenutzten Zeiten stapeln sich in den Regalen.
Kindliche Fantasie verkümmert zu einer dumpfen Erinnerung. All die angehäuften, eingeklebten, zugeklappten Bilder auf denen man sich nicht
erkennt. Müssen andere Leben gewesen sein, solche die ich bestimmt aus gutem Grund vergessen habe.
Die begleitende Erzählung knüpft die Bande zu den Dingen und zu dem Fremden in den Alben. Ohne sie verharren sie unerkannt in ihrer Sphäre, mit
einem Fuss im Reich der Toten. Weil der Mensch Dinge beseelen kann, glaubt er auch an seine Seele. Die aufscheinenden Zusammenhänge, an denen man
sich entlang hangelt, heißen offiziell Fakten. Das erzeugt ein besseres Gefühl, weil man so das Projekt Aufklärung nicht vernachlässigt.
Im Dreieck zwischen Präsens, Imperfekt und Konjunktiv. Schlecht sich dort zu recht zu finden. Unliebsame Gegend; Menschen verlieren dort angeblich den
Verstand.
Das ist eine zweckgebundene Lüge. Eine Realität, die sich weigert, dass man von ihr Besitz ergreift, erschafft seelenlose Wesen. Der Blick zurück wird zur
Angewohnheit, zu einem zwanghaften Schielen. Trotzdem geht es weiter vorwärts, mit stark verrenkten Gliedern. Umrisse verschwimmen, die Augen
tränen, weil der Wind von hinten kommt. Aus mal lauwarmer, mal kühler Gruft, weht er uns nach.
- 1978 geboren in Friedberg/Hessen
- 1999-2000 Studium der Komparatistik, Justus-Liebig-Universität Giessen
- 2000 Studium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
- 2004 Studium an der Ecole Nationale de Beaux-Arts de Lyon
- 2002-2006 Studium und Diplom bei Prof. Timm Rautert Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
- 2008 Meisterschüler, Prof. Timm Rautert, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
- lebt und arbeitet in Leipzig
Einzelausstellungen
- 2017 Beaver, Galerie Kleindienst, Leipzig
- 2013 Terrible Eyes, Galerie Kleindienst, Leipzig
- 2011 2011 (mit Johannes Rochhausen), Kunstraum Ortloff, Leipzig
Heads and Tails (mit Nadin Rüfenacht), Kunstverein Essenheim - 2010 The difference between you and me is that I'm not on fire, Galerie Kleindienst, Leipzig
- 2009 Wir werden alle Fiesen killen (mit Heide Nord), Galerie dieschönestadt, Halle
Später Wurm entkommt dem Vogel (mit Philipp Moritz), Galerie Hafenrand, Hamburg - 2008 Wo Parkplätze entstehen, entstehen Firmen (mit Jan Sledz), Laden fuer Nichts, Leipzig
Der Hund soll still sein, Galerie Hafenrand, Hamburg - 2006 Zurück zum Beton, Galerie Kleindienst, Leipzig
Return of the Dingsbums, Tschoperl, Frankfurt/M. - 2005 Waiting for the Taxies #4 - Haltungsschäden, HGB Leipzig
Keiner stirbt (mit Yvon Chabrowski), Laden fuer Nichts, Leipzig
Ausstellungsbeteiligungen
- 2018 Angy Boys, Det Ny Kastet, Thisted (Dänemark)
- 2017 The Love of Three Oranges, Kyoto Bar, Köln
- WIN/WIN. Ankäufe der Kulturstiftung Sachsen, Halle 14, Leipzig
- 2015 Nach dm Krach, vor der Stille, Kunstverein Leipzig
words to be looked at again, Kunstverein, Leipzig
Ein Zimmer für Alfred Flechtheim, Osthaus Museum Hagen - 2014 Ce qui je suis maintenant-Ein Zimmer für Alfred Flechtheim, Rompone Artspace, Köln
Zucht@Ordnung, 21. Leipziger Jahresausstellung, Westwerk Leipzig - 2013 Why Gray, damage done, Performance von Carsten Tabel und Carlsten Powernap, Werkschauhalle, Leipzig
- 2011 Auslöser, Kunsthalle der Sparkasse Leipzig
Come together, Galerie Maurer, Frankfurt
Saxonia Paper, Kunsthalle der Sparkasse Leipzig - 2010 To hell with good intentions, Galerie Maurer, Frankfurt am Main
Fröhliche Gesellschaft, Galerie Parrotta, Stuttgart - 2009 Close the Gap, Stadtgalerie Speyer & Paffenhofener Kunstverein
Stoffe der Eitelkeit, Parrotta Contemporary Art, Stuttgart - 2008 Vertrautes Terrain – Contemporary Art in/about Germany, ZKM Karsruhe
Drawcula, Galerie Kleindienst, Leipzig
Close the Gap, Stadtgalerie Kiel
Schwanger auf St Pauli, Galerie Hafen+Rand, Hamburg
Standards of Living, Kunstverein Leipzig
Meisterklasse Timm Rautert und Gäste 2006-2008, Halle 12, Spinnereigelände, Leipzig - 2007 Zeig mir deinen Katalog, du Schwein!, Galerie Kleindienst, Leipzig
Standards of Living, Hinterkonti, Hamburg
Ohne Schatten, Galerie Eigen+Art, Leipzig
Wasser! Fort! Au! Hilfe! Schön! Nicht!, Galerie Hafen+Rand, Hamburg
New Talents, Art Cologne, Köln
Blaue Blume, ÉNBA de Lyon, Lyo - 2005 Kalte Herzen, Klasse Rautert, Galerie Kleindienst, Leipzig
Kalte Herzen, Klasse Rautert, Arario Gallery Seoul
Kalte Herzen, Kunstverein Radolfzell - 2004 Kalte Herzen, Kunstbunker Tumulka, München
Stipendien / Preise
- 2011 Stipendium der Hessischen Kulturstiftung: 1 Jahr Atelierstipendium London
Bibliografie
- 2010 Carsten Tabel, I'm not on fire, Ausgewählte Texte 2006-2010