Tobias Lehner
Text
Tobias Lehner. Vom Versuch zum Irrtum - von Frederic Bussmann (2018)
„Das Malen ist ein donnernder Zusammenstoß verschiedener Welten, die in und aus dem Kampfe miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind, die das Werk heißt“, schrieb Wassily Kandinsky in einem berühmten und vielzitierten Text von 1913 rückblickend über den Prozess des Malens. Er führt weiter aus: „Jedes Kunstwerk entsteht technisch so, wie der Kosmos entstand – durch Katastrophen, die aus dem chaotischen Gebrüll der Instrumente zum Schluß eine Symphonie bilden, die Sphärenmusik heißt. Werkschöpfung ist Weltschöpfung.“[1] Die Analogie zur Musik diente Kandinsky zur Erläuterung seines eigenen Ansatzes einer abstrakten Malerei, die kein mimetisches Abbild des Naturschönen war, sondern zu einer neuen, reinen und vergeistigten Kunst und damit zu einem eigenständigen künstlerischen Kosmos führen sollte. Auch wenn über einhundert Jahre später das Kunstwerk nicht mehr als Schöpfungsakt einer neuen Welt gesehen wird – und die Abstraktion nicht mehr gegen die Figuration in Stellung gebracht wird, gegenständliche und ungegenständliche Kunst keine Gegnerschaft mehr provozieren –, sind heute noch bei Malern ähnliche Impulse zu erkennen, die Kandinsky 1913 beschrieben hat. Auch heute noch bannen Maler ihre Welten auf die Leinwand, schöpfen aus ihrer Umwelt ebenso wie aus ihrer Imagination. Sie ordnen das ‚chaotische Gebrüll‘ der Formen und Farben, das sie umgibt und erfüllt, um Neues beim Betrachter entstehen zu lassen und die Freiheit der Empfindung der Freiheit des Schaffens an die Seite zu stellen.
Tobias Lehner ist so ein Künstler. In mehr als 20 Jahren hat er ein umfassendes malerisches Oeuvre geschaffen, das mit seiner ganz und gar abstrakten Formensprache im Umfeld der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst eher eine Ausnahme bildet und sich vielmehr an Entwicklungen der westlichen Nachkriegsavantgarde anschließt. Während seine frühere Malerei stärker von Linien und geometrischen Flächen geprägt ist, tektonisch aufgebaut zu sein scheint und damit auch der eines Künstlers wie Martin Kobe nicht unähnlich ist, verzichtet er seit einigen Jahren zunehmend darauf und arbeitet seine Flächen freier aus. Konsequent verweigert sich Lehner der offenkundigen Narration, des Fabulierens durch figurative Andeutungen, sondern setzt organische neben geometrische Formen, fügt hinzu und nimmt wieder weg, setzt Form um Form ohne Anklänge an Gegenständen seine Bilder zusammen. Lehner sucht die Lösung zu seinen künstlerischen Problemen im Prozess des immer wieder neuen Übermalens, frei nach dem titelgebenden Motto des „trial and error“ (Versuch und Irrtum). Einige seiner in Acryl gemalten Bilder wirken wie Palimpseste, in denen sich neue Motive und Formen über ältere legen, wobei Lehner nicht die älteren Zeugnisse abschabt, sondern sie stehen lässt und übermalt. So entstehen Schicht um Schicht Gemälde mit abstrahierenden Formen und Flächen, die entgegen der Abstraktion der klassischen Moderne wieder von einem Tiefenraum geprägt sind, entstanden durch kompositorische und motivische Effekte sowie der Verwendung von Zentralperspektive, aber ebenso durch die tatsächliche Überlagerung von dünnen Farbschichten. Lehner arbeitet sich wieder und wieder an seinen Leinwänden ab, setzt Farben, erzeugt malerisch Assoziationsmuster und Stimmungen, verwirft diese wieder, sucht neue Möglichkeiten und arbeitet solange, bis das Zusammenspiel von Farben und Formen die richtige Balance und den richtigen Komplexitätsgrad hat, die zu seiner Gefühlslage passende Aussagekraft hat und seinem eigenen Stimmungsbild entspricht. Bei seinen Kompositionen geht es ihm nicht um Nachbildungen der Welt, sondern um Neuschöpfungen durch die Malerei, dem Diktum Kandinskys nicht unähnlich, dass Werkschöpfung Weltschöpfung sei. Lehner stellt uns seine Innenwelten vor, verarbeitet Erfahrungen und Erlebnisse und sucht die Entsprechungen dafür in Form und Farbe.
Während sich Tobias Lehner in seiner abstrakten Grundhaltung deutlich von seinem direkten, häufig figurativ arbeitenden künstlerischen Umfeld in Leipzig absetzt, findet er in der westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts erste Orientierungen für seine eigene Arbeit, allen voran in der angloamerikanischen Kunst der Nachkriegszeit. Künstler wie Jackson Pollock, Mark Rothko, Barnett Newman oder auch Frank Stella interessieren Tobias Lehner. Der abstrakte Expressionismus und die amerikanische Farbfeldmalerei mit ihren immersiven Qualitäten, die bisweilen zum Transzendentalen neigen, das Eintauchen in sphärisch anmutende Bildwelten, die Farbfeldmalerei und vor allem aber ihr Ausloten von malerischer Komplexität und Einfachheit sind Bildtechniken, die Lehners eigene Arbeit stimuliert haben. Hierin ist Lehner mit zeitgenössischen Künstlern wie Sterling Ruby vergleichbar, der sich in seiner Malerei ebenfalls mit dem Erbe des Abstrakten Expressionismus auseinandersetzt. Mit Rothko teilt Lehner die Ansicht, dass Kunst Emotionen und Imaginationen evozieren soll und nicht etwa eine Systematik ihrer selbst willen darstellt. Jedoch ist er von der strengen Reduktion der Malerei Rothkos oder Newmans entfernt und ‚überfrachtet‘ eher seine Bilder, ‚chaotisiert‘ sie und ordnet neu. Auch fällt seine Malerei weniger sphärisch-transzendental aus als die seiner älteren amerikanischen Kollegen, vielmehr scheint er auch strengere Ansätze von Op Art-Künstlern wie etwa Bridget Riley wieder aufzugreifen und diese mit einer zeitgenössischen Vision weiterzuentwickeln. Der Fundus seiner Malerei ist die Kunst des 20. Jahrhunderts, aus der er schöpft und deren Impulse er verarbeitet. Seine Ästhetik aber ist die des 21. Jahrhunderts, sein visuelles Vokabular ohne die Erfahrung der Bildsprache von Videoanimationen und Computergrafik nicht denkbar.
Die von Kandinsky benutzte Metapher der malerischen „Instrumente“, die „zum Schluß eine Symphonie bilden“ lässt sich auch auf die Malerei Lehners anwenden. Als ehemaliger Chorknabe und Sohn eines Berufsmusikers ist Tobias Lehner stark von Musik und besonders von Johann Sebastian Bach geprägt. Kosmos und Ordnung, Struktur und Wiederholung der Musik Bachs, ihre Harmonien und Kompositionsprinzipien hat Lehner verinnerlicht, ohne dass seine Malerei freilich ein Abbild von dessen musikalischen Prinzipien ist. Er folgt aber der musikalischen Abstraktionsfähigkeit, die durch Harmonien, Melodien und Rhythmus beim Hörer Ideen und Bilder evoziert. Auch zeigen Lehners Bilder keine wörtliche Motivik, sondern bilden rhythmisierte Farbklänge, bisweilen unterbrochen durch Leitmotive und dadurch Assoziationsmuster, die bedeutungsoffen beim Betrachter eine Vielzahl an Verbindungen zulassen. Lehners Bilder fallen mal als Etüden aus, mit wenigen, aber präzise gesetzten Ausdrucksmitteln, mal entfalten sie aber auch die orchestrale Wirkmacht veritabler Symphonien, die durch Umfang und Vielfalt der malerischen Stimmen den Betrachter in ihren Bann ziehen.
Lehners Hauptwerk in der Wolfsburger Ausstellung, für den spezifischen Ort oberhalb der zentralen Treppe gemalt, kann als eine solche Symphonie empfunden werden. Auf schwarzem Grund steht ein strenges Raster, von dem sich amorphe Farbgebilde vornehmlich in Magenta, Orange, Blau und Grau schablonenhaft absetzen. Die Rasterlinien nehmen diese Farben wieder auf. Hie und da zeugen Farbspritzer vom dynamischen, vom körperlichen Akt des Malens, verweigern sich jeder Kontrolle, die zuvor mit dem streng geometrischen Gitter so kleinteilig und zum Impulsiv-Zufälligen in Kontrast gesetzt wurde – Stilmittel und Techniken, die sich in unterschiedlicher Ausprägung auch auf den anderen Leinwänden wiederfinden lassen. Größe und Anlage des Bildes sind auf Immersion ausgerichtet. Als Betrachter könnte man sich in dem Bild verlieren, wäre es nicht auf Weitsicht und Entfernung gemalt. Ein anderes Beispiel für diese immersiv anmutenden Bildwelten mit Mitteln der Malerei – und nicht etwa durch eine computergestützte Virtuelle Realität – ist auch das großformatige Gemälde, das Lehner bei der Galerie Kleindienst in Leipzig 2017 ausgestellt hat (Ohne Titel (5), 2017). In Nachbarschaft mit weiteren Leinwänden – die bisweilen von monochrom gehaltenen geometrischen Flächen dominiert sind, die an die Malerei Frank Stellas erinnern – und seinen abstrakten Plastiken zog das Bild die ganze Aufmerksamkeit auf sich. Auch in dieser Arbeit legt Lehner verschiedene und gegenläufige malerische Ansätze übereinander: sphärisch anmutende Farbflächen in Orange und Rosa, die wie aufgerissen wirken durch schwarze Farbspritzer Pollockscher Prägung, über die sich wiederum gräulich verlaufende Schleier legen, so flüssig und schnell gemalt, dass die Farbe herunterläuft und damit das Prozesshafte des Malens ohne Scheu deutlich macht. An die Oberfläche schließlich drängen monochrom-orangene Flächen, deren Wirkung durch grau-weiße Aureolen noch verstärkt werden; sie scheinen wie Inseln aus der Tiefe aufzutauchen und legen sich wie ein Tarnnetz über den dynamischen Farbkosmos dahinter. Farb- und Formkontraste erzeugen einen offenen Bildraum, der eine Vielzahl von Assoziationen etwa an zerklüftete, aufgerissene Landschaften zulässt, sich aber jeder erzählerischen Eindeutigkeit entzieht.
Man taucht in Lehners Bildräume ein, arbeitet sich Stück für Stück durch fragmentierte Bildschichten, auf der Suche nach Erkennbarkeit und Erkenntnis. Am Ende bleiben Spuren der Erinnerung, Bruchstücke von Bedeutungen, die mit Formen und Farben in Verbindung gesetzt werden, ohne je ein eindeutiges Gesamtbild zu ergeben. Flüchtige Spuren eines Augenblicks. Diese Fragmentierung kombiniert er bei seinen aktuellen Gemälden mit einer auffallenden Farbgebung, die sich durch eine grelle Kombination von Neonfarben etwa in Magenta, Grün oder Orange auszeichnet, deren Wirkung vor dunklem oder grauem Grund noch gesteigert wird. Fast wie Warnhinweise treten diese Flecken auf und erzeugen keineswegs einen harmonischen Zusammenklang, sondern regen zum Widerspruch an, provozieren visuell. Lehners derart gestaltete Bilder, hinter denen auch Assoziationen an zerklüftete Landschaften aufblitzen, scheinen krisenhaft zu reagieren auf eine Zeit, die von Zerrissenheit und Konflikten geprägt ist. Die camouflageartig gesetzten Farbflächen könnten etwa Kriegsstrategien imitieren, ohne dass Lehners offene Formgebung diese Lesart aber direkt herausfordert. Lehner malt gegenstandslos, aber dennoch voller Bezüge zu seiner Bild- und Lebenswelt. Der Glaube an ein einheitliches Werk- und Weltbild, wie es vielleicht noch Kandinskys Text suggeriert, ist nach den politischen und künstlerischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht mehr denkbar. Und dieser Fragmentierung des Denkens, der Vielschichtigkeit und Komplexität der Welt, dem Zweifel an einer einfachen Weltsicht und damit der zerrissenen Mehrdeutigkeit der Existenz gibt Lehner in seiner Malerei Ausdruck.
[1] Wassily Kandinsky, „Rückblicke“, in Kandinsky. 1901–1913, Berlin: Verlag Der Sturm 1913, I–XXXXI, hier S. XIX.
Splitter
Fragmentarische Überlegungen zu den Werken von Tobias Lehner von Susanne Altmann (2014)
I.
„The Deep“ - „Die Tiefe“: Das ist der Name eines ungewöhnlichen Gemäldes von Jackson Pollock, entstanden 1953, drei Jahre vor seinem Tod. Im Oeuvre dieser späten Jahre wird es umgeben von Werken im „gewohnten“ Pollock-Duktus. Was macht „The Deep“ jedoch so beklemmend besonders? Im getupften, flockigen Weiß eines gewaltigen Hochformats gähnt eine dunkle Schlucht, die sich gegen die von allen Seiten herandrängende Monochromie behauptet. Über dieses Bild ist viel philosophiert worden. So schrieb Kirk Varnedoe anlässlich der großen Pollock-Retrospektive 1995 in New York: Im Vergleich zu ähnlichen Ansätzen seiner Kollegen wie Barnett Newman oder Clyfford Still sei der Meister hier ganz ausdrücklich darauf aus, „den Vordergrund zu verhüllen, das Bild nach innen einzufalten und der Tiefe kein figuratives Element entgegenzusetzen, sondern eine zerrissene Öffnung in eine dunkle Unendlichkeit hinein. Verglichen mit der Poesie der undefinierten Räume der 'drip paintings', ist das ein Melodrama...“ Ein Melodrama also – ein persönliches und künstlerisches zugleich. Ohne wirklich von Abstraktion zu lassen, gelingt es Pollock hier, ein lesbares Zeichen für seine eigene Zerrissenheit und gegen den Schaffendrucks unter bestimmten Erwartungsklischees zu setzen. „Die Tiefe“ zieht den Betrachter suggestiv in den Abgrund und demonstriert zudem meisterhaft und pointiert die nonverbale, existenzielle Ausdrucksfülle von nichtgegenständlicher Malerei. Zu dieser Zeit war der Zenit des abstrakten Expressionismus gerade erreicht – bald würden die Hard Edge-Maler das gestische Moment aus ihren Kompositionen verdammen, bald würden Jasper Johns, Frank Stella oder Robert Rauschenberg Methoden der kalkulierten Bändigung von Formen ersinnen, die die Tore für die Pop Art und die neue Figuration der 1960er weit öffnen. Vielleicht ist „The Deep“ ein prophetisches Bild, das das Ende des „all over painting“ wie ein fernes Gewitter vorwegnimmt und dessen Ausschließlichkeit in Frage stellt. Ein selbstquälerisches, trauriges Bild? Diese Deutungen bleiben im Schneegestöber des Vordergrunds stecken und es war zu diesem Zeitpunkt, 1953, unklar, wie eine Versöhnung des köperintensiven „action painting“ und geometrisch kalkulierter Ansätze aussehen könnten. Über 50 Jahre später sind Kunstgeschichte und Markt über die Malerei hinweggerollt und haben gültige Fomen und Strategien hinterlassen, die die Zweifel und die Zerrissenheit von Pollock fern und historisch aussehen lassen. Der kalte Krieg in der Malerei und Kämpfe um Deutungshoheiten scheinen bedeutungslos. Doch sind sie das im Einzelfalle tatsächlich? Auf alle Fälle werden sie kaum noch mit den Waffen der Ideologie ausgetragen.
II.
Dennoch – und hier sei der lange Exkurs beendet – mit der Renaissance der Figuration, wie sie in den letzten zehn Jahren besonders von Leipzig und dem hier gelehrten Malhandwerk ausging, öffneten sich wiederum neue Einfallstore für Diskussionen zwischen den Lagern. Wenn ein Künstler wie Tobias Lehner inmitten der ehrwürdigen Hochburg von Figuration, wie das Leipzig nun wohl ist, konsequent an der Abstraktion festhält, so ist schon allein dieses Phänomen einer näheren Betrachtung wert. Im Gespräch mit dem Künstler stellt sich heraus, dass für ihn die Schlüsseldebatten der 1950er Jahre keineswegs erledigt sind. Er begreift sie nicht historisch, sondern vielmehr als ewig junge Probleme des Umgangs mit der Leinwand. Er spricht von Mark Rothko und dessen Suche nach bildnerischer Konzentration wie von einem zeitgenössischen Phänomen. Er räsoniert über das Ringen um Illusionsräume, die malerisch geöffnet werden und über eine Grundmatrix, die man zu erkennen glaubt und die dann wieder wieder verschwindet. In diesem Sinne scheint es, als würde Tobias Lehner das mit „The Deep“ gesetzte Thema unaufhörlich neu angehen. Brüche und Risse sind ihm zum Programm geworden, der Sog in eine Tiefe des Malerischen und Poetischen zu einer persönlichen Dringlichkeit. Überall auf seinen Leinwänden, seien sie monumental oder kleinformatig, öffnen sich derartige Abgründe.
III.
Darin pulsieren Öffnung und Verriegelung auf eine fast hörbare Art und Weise, die stilistisch auch schon mal an die Mittel aus der Comic-Kunst und an deren visuelle Darstellungen von Geräuschen erinnert. Explosionen, akustische Einschübe, anderweitige Geräusche bilden so einen Bild-Klangteppich. Anhand dieser gleichsam musikalischen Dynamik lauschen wir einem weiteren Grundmotiv von Lehner, der für den Abstraktionsgrad von Musik, wie etwa dem einer Bach'schen Fuge und deren mathematischer Konstruktion, schwärmt. Er legt seine malerischen Konstruktionen mit ähnlichem Kalkül an und lässt dann, wie er sagt, „die Kreativität das Ruder übernehmen“. An verschiedenen Stellen der Leinwände werden schichtweise bestimmte Klangfolgen eingeführt und ähnlich wie bei einer Fuge entwickelt. Sie treffen nach und nach aufeinander, werden manchmal bis zur Unkenntlichkeit in Interferenzen entstellt und steigern sich dann in der furiosen Coda des Gesamtwerks. Zusätzlich zu diesen eher klassischen Referenzen spielen musikalische Techniken der Moderne und der Gegenwart einen wichtigen Part im Klangkörper eines Lehner-Gemäldes. Sie gleichen anarchistischen Sequenzen aus dem Free Jazz, die von einem durchgehenden Rhythmus zusammengehalten werden und Anklängen an die Sampling-Techniken des aktuellen DJaying gleichermaßén. Manchmal nimmt „VJ Lehner“ solche Assoziationen auch wörtlich und malt runde Scheibenbilder, die die auf Klangträgern unsichtbar enthaltenen, mutmaßlichen Beats in Bilder übersetzen. Solche Rundbilder rollten besonders 2009 als eigenständige Tondi in sein Schaffen; die an Vinyl oder CDs erinnernden Kreisformen tauchen aber in der Choreografie rechteckiger Bilder genauso als eine geometrische Form unter vielen wieder auf. Sampling-Elemente eben, die als Zitate aus dem großen Kanon abstrakter Motive zwischen Wassili Kandinsky und Frank Stella hier gleichsam neu aufgeladen werden.
IV.
Letztendlich jedoch erschöpft sich der Assoziationsfundus für das Kaleidoskop Tobias Lehners nicht in musikalischen oder kunshistorischen Versatzstücken, sondern – und auch das macht seine Einzigartigkeit aus – beinhaltet ebenso Anregungen aus der Welt der Technik und der Wissenschaft. Wer einmal bewusst auf die geometrischen Strukturen im Inneren von digitalen Apparaturen, auf deren chaotisch erscheinende Schönheit oder durch ein Elektronenmikroskop geblickt hat, weiß, wovon die Rede ist. Diese real existierenden Kompositionen scheinen mehr einem ästhetischen, als weniger einem Konstruktionsprinzip verpflichtet. Sie bilden ein Segment unserer visuellen Wirklichkeit ab, dessen Funktionsweise uns gemeinshin verschlossen bleibt. Die damit verbundenen Rätsel können und wollen Tobias Lehners Gemälde natürlich nicht klären, mystfizieren sie jedoch ebensowenig. Sie bieten vielmehr eine Interpretation von uns umgebenden Mikrokosmen an, in dem sie diese als Makrokosmen wiederholen. Auch das Rastermotiv moderner Architektur und des Städtebaus wird aufgenommen. Die Sehnsucht nach Ordnung und Übersicht als vergebliches Streben menschlicher Gestaltung rückt ins Blickfeld. Hier zersplittern regelmäßige Fassaden, wie wir sie etwa von Sarah Morris kennen und geben den Blick frei auf dahinterliegendes Chaos und auf die Zerbrechlichkeit von gebauter Umwelt. Immer wieder wechseln sich Synthese und Antithese von Formen ab und gönnen dem Betrachter keine Ruhe. Insofern erinnern die atemlosen Durch- und Aufbrüche besonders in Lehners allerjüngsten popfarbigen Gitterwerken auch an die physischen Eingriffe, die Gordon Matta-Clark besonders in den 1970er Jahren an Gebäuden vornahm. Mit Mut und deutlichen Respektlosigkeit vor großen Dimensionen schlossen Matta-Clarks Interventionen wieder an die beherzten Gesten des abstrakten Expressionismus an: Auch hier grüßt wieder „The Deep“ als universelle, ja existenzielle Metapher. In Lehners Serie „Bild 1“ bis „Bild 7, 2010“ grassieren derlei schwarze Löcher seriell und epidemisch.
V.
In der rasanten Fülle von solchen möglichen Wiedererkennungseffekten aus Kunst- und Alltagsformen zugleich liegt die eigenständige Sprache von Tobias Lehner. Meist geht er ganz buchstäblich und auch im übertragenen Sinne mit dem Rakel über die noch feuchten Module, Zitate und Erfindungen. Erkennbares wird wieder verwischt oder besser: komprimiert. In diesen Momenten erinnern seine Prozeduren an das Entstehen von mittelalterlichen Palimpsesten, wo ja auch trotz Ausradieren und Abschaben der alten Pergamente zum Zwecke der Neubeschriftung immer wieder Reste der früheren Informationen bestehen blieben. Sie sind nicht oder nur mit Mühe decodierbar, funktionieren aber als Zeugnisse von sich stapelnden Schichten aus Zeit, Bild und Werten.
Vielleicht – und dies ist zugebenermaßen eine kühne These – sind Tobias Lehners Werke gerade durch diese flackernde Nervosität von Informationsüberlagerungen, durch die nötige Geschwindigkeit von deren Verarbeitung, durch oft aggressive Farbenvielfalt viel näher und klarer am Puls zeitgenössischen Lebens als ein zeitgleich entstandenes gegenständliches Bild, egal wie dicht dessen Symbolfundus auch sein mag. Diese Schlussbehauptung soll beileibe nicht verstaubte Formalismus-Realismusgräben aufreißen. Doch wie ist Gegenwart bildlich zu fassen? Tobias Lehner zumindest ist ein Künstler, der neben allen anderen, handwerklichen und diskursiven Qualitäten, diesen Anspruch an sich erhebt. Seine Themen sind: die permanente Überforderung in der Mediengesellschaft, der unausgesetzte Zwang zum Selektieren sowie das gelegentliche Verstummen der Assoziationsfähigkeit – bei nicht nachlassender Einspeisung an allen Sinnesfronten. All diesen Neuralgien verleihen seine Bildtableaus eine Form. Dass diese Form vibriert und splittert, liegt in der Natur der Sache.
- 1974 geboren in Regensburg
1998-2003 Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bei Professor Sighard Gille
2003-2005 Meisterschüler bei Professor Sighard Gille
lebt und arbeitet in Leipzig
Einzelausstellungen
- 2022 Myopia Magna, Galerie Kleindienst, Leipzig
- 2018 Trail and Error, Junge Kunst e.V. Wolfsburg
- 2017 Paragone, Galerie Kleindienst, Leipzig
- 2016 Refraction, Kunstverein Aichach
- Paintings, Union Gallery, Hong Kong
- 2015 Mikro Makro, Bühlers, Fürth
- 2014 Triplex, Galerie Kleindienst, Leipzig
- 2013 VERTIGO, Kunstverein Bamberg
Unintended consequences, Gallery Baton, Seoul, Korea
Gyration, UNION Gallery, London - 2011 Friktion, Galeria SCQ, Santiago de Compostella
- 2010 Radiation, Kunstverein Ravensburg
Perihel, Union Gallery, London - 2009 Anthrax, Galerie Kleindienst, Leipzig
1234YF, Gallery Susann Tarasieve, Paris
60/40/20, Kunst in Leipzig seit 1949, Museum der bildenden Künste, Leipzig - 2008 New Leipzig School, Cobra Museum, Amstelveen
GRIMME FINE ART, Amsterdam - 2007 Chromatic, Galerie Kleindienst, Leipzig
- 2006 Leipzig select, Barbara Davis Galerie, Houston, Texas
story and structure, Marella Gallery Mailand
Galerie Suzanne Tarasieve, Paris
Union Gallery, London - 2005 Galerie Kleindienst, Leipzig
- 2004 Paintings, Union Gallery, London
- 2003 Laden für Nichts, Leipzig
Ausstellungsbeteiligungen
- 2020 NEW, Westside Galerie Kleindienst, Leipzig
Full House, Bühlers, Fürth
NEW 2, Westside Galerie Kleindienst, Leipzig
2017 Groupshow, Choi & Lager, Seoul - 2016 Paradoxes of the Ivory Tower, Oliva Greative Factory, S. Joao da Madeira (Portugal)
- Immer und Ewig. 23. Leipziger Jahresausstellung, Westwerk Leipzig
- 2015 La Coleccion, Centro Centro, Palacio de Cibeles, Madrid
Leipzig 2015. Hildebrand Collection, G2 Kunsthalle, Leipzig
German Cool, Salsali Private Museum, Dubai - Starwars Episode 7, UNC Gallery, Seoul
2014 Konstruktives Widersprechen,Sammlung Klein, Eberdingen-Nussdorf
2013 Ohne Titel: abstrakt - konkret - konstruktiv, Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, Leipzig
2012 Leipzig Art Panorama, Seongnam Art Center, Südkorea
Triangel, Galerie der Gegenwart, Karlsruhe
Tondo-Die Kunst ist rund, kunst galerie Fürth, Fürth
2011 Focus/Abstraktion, ESSL Museum, Wien
2010 New Paintings, Grimm Fine Art, Amsterdam
Viermaleins, Kunstgalerie Fürth
2009 60/40/20. Kunst in Leipzig seit 1949, Museum der Bildenden Künste Leipzig
2008 Drawcula, Galerie Kleindienst, Leipzig
Neue Leipziger Schule, Cobra Museum, Amstelveen
2006 Leipzig select, Barbara Davis Gallery, Houston
Story and structure, Marella Gallery, Mailand
Artists from Leipzig, Arario Gallery, Peking
Made in Leipzig, Sammlung Essl, Kunst der Gegenwart, Wien
2005 Malerei, Produzentengalerie, Hamburg
Ohne Zögern, Die Sammlung Olbricht Teil 2, Neues Museum Weserburg, Bremen
Rainbow, Galerie sfeir semler, Beirut, Libanon
Forbilder, Kunstverein Jena
Cold Hearts, Arario Gallery, Seoul/Süd Korea
2004 Eastory, Gallery Suzanne Tarasiève, Paris
Plaza Suite, Union, London
Clara-Park, Marianne Boesky Gallery, New York
Alles muss raus!, B2, Leipzig
2003 Kunststudenten stellen aus, Art and exhibition hall, Bonn
Emerging Artists 08, Galerie Kleindienst
Subversive, sexy and stylish, Wewerka Galerie, Berlin
Bibliografie
- 2019 Tobias Lehner - Vom Versuch zum Irrtum (Katalog), Wasserscheid Verlag
- 2007 Tobias Lehner (Katalog), Kerber Verlag
Made in Leipzig (Katalog), Sammlung Essl, Schloss Hartenfels, Torgau - 2006 First open, New York, Christies
- 2005 Tobias Lehner - Malerei (Katalog), Galerie Kleindienst
Most wanted (Katalog), Sammlung Olbricht
Cold hearts, Arario, Seoul (Südkorea) - Tobias Lehner (Katalog), Matthias Kleindienst, Suzanne Tarsiéve und Jari Lager
- 2004 Coomer, Time Out, London, 02/2004